Nora Vogt – ein Jahr in Belgien mit ATD Vierte Welt

Nora Vogt ist 24 Jahre alt und seit September 2014 bei ATD Vierte Welt in Brüssel. Sie kommt aus Deutschland und leistet einen einjährigen Friedensdienst mit der Organisation „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V.“ (ASF, www.asf-ev.de). In diesem Interview schildet sie ihre Erfahrung bei ATD Vierte Welt und berichtet von besonders prägenden Erlebnissen.

Zu erst natürlich die Frage, wie du zu ATD Vierte Welt gekommen bist?

Nora: Das ist eine gute Frage, da es das Angebot eines Dienstes bei ATD Vierte Welt vorher noch gar nicht so gab. Es ist das erste Jahr, in dem ASF eine volle Freiwilligenstelle zu ATD Vierte Welt vermittelt. Vorher gab es schon Kooperationen mit der Organisation, so genannte Kombiprojekte. Dabei hat ein Freiwilliger einen Tag in der Woche hier gearbeitet und die restliche Zeit in seinem Hauptprojekt bei einer anderen Projektstelle. ATD Vierte Welt war mir vorher unbekannt, daher wurde mir die Bewegung als neues Projekt in Brüssel vorgestellt und das klang sehr interessant.

Bist du zufrieden mit deiner Wahl?

Nora: Ja, ich bin sehr zufrieden! Ich finde es ist ein total interessanter Freiwilligendienst, den ich leiste. Die Vielschichtigkeit von ATD Vierte Welt ist spannend und zu sehen, auf wie vielen Ebenen so eine Menschenrechtsorganisation tätig ist und was alles zu den verschiedenen Projekten gehört, bietet mir einen tollen Einblick.
Auch meine Arbeit gestaltet sich sehr vielschichtig: In der Straßenbibliothek von Molenbeek hatte ich viel mit Kindern zu tun, im „Haus des Wissens“ mehr mit Erwachsenen. Die Themenbereiche in denen ich arbeite gehen von Kinderbetreuung zu künstlerischen Aufgaben, bei denen man kreativ sein muss, bis hin zu Übersetzungen.

Kannst du deine Aufgaben oder einen typischer Tag beschreiben?

Nora: Also einen typischen Tag habe ich eigentlich nicht, weil ich ja auch an zwei verschiedenen Orten arbeite: Zum einen im „Haus des Wissens“, wo ich auch wohne, und zum anderen im „Vierte Welt Haus“ in Etterbeek. Die Tage sind also sehr unterschiedlich.
Wenn ich aber einen Tag herausgreife, der so am häufigsten abgelaufen ist, war das wohl der Mittwoch, an dem ich immer die Straßenbibliothek in Molenbeek veranstaltet habe. Morgens habe ich mich mit meiner Kollegin getroffen und wir haben verschiedene andere Organisationen in dem Viertel besucht, um eine Art Studie über die Gegend erstellen zu können. Nachmittags haben wir dann die Straßenbibliothek angeboten.
So wird wohl einer der häufigsten Tagesabläufe ausgesehen haben, aber einen typischen Tag zu beschreiben, fällt mir schwer. Ganz selten passiert es mir sogar, dass ich morgens noch gar nicht weiß, was mich am Tag erwartet. Im Moment arbeite ich an verschiedenen Übersetzungen und erstelle eine Bücherliste aller Bücher, die in der Jugendabteilung von ATD Vierte Welt vorhanden sind. Gerade erst habe ich aber auch ein Interview mit einer aktiven Teilnehmerin („Alliierten“) des „Haus des Wissens“ geführt.

Kannst du etwas über diese Begegnug erzählen?

Nora: Die Frau wohnt seit 45 Jahren im Viertel und ist seit bestimmt 20 Jahren künstlerisch tätig. In ihrer Jugend, wie sie sagte, hat sie Kunst gar nicht richtig wahrgenommen, hat dann aber ein Interesse dafür entwickelt. Diese Entwicklung wurde von ihrem Mann eher negativ angesehen. Die Frau hat sich dann bei der Kunstakademie angemeldet, was für eine Frau aus dem Arbeitermilieu ja eher schwierig war. In der Akademie hat sie dann viele verschiedene Leute aus anderen Milieus getroffen. Das Gespräch war sehr interessant, weil sie mir von ihren Schwierigkeiten in dieser Zeit erzählt hat und das hat mich sehr berührt.

Wie siehst du die Rolle bzw. die Aufgabe von ATD Vierte Welt in Bezug auf solche Geschichten?

Nora: ATD spielt in diesem Zusammenhang eine sehr wichtige Rolle. Beispielweise hat sie angefangen, künstlerische Ateliers im „Haus des Wissens“ zu besuchen. ATD Vierte Welt gibt den Menschen dabei eine Möglichkeit, einen Zugang zu Kunst und Kultur zu erhalten. Dieser Zugang wird ja besonders Leuten aus einfachen und armen Milieus meist verwehrt. Genau dagegen kämpft die Bewegung ja auch. Auch die generationsbedingte Armut spielt hier eine Rolle, nicht nur die finanzielle Armut. Die Frau hat mir z.B. erzählt, dass ihr Mann anfangs nicht von ihren künstlerischen Tätigkeiten begeistert war, da die Familie nun mal aus dem Arbeitermilieu stamme und Kunst nicht zu ihr passe. Und genau das ist das Schöne an ATD Vierte Welt. Die Leute werden darauf aufmerksam gemacht, dass auch sie besondere Qualitäten und ein Recht auf Kultur haben. Meist sind es gerade diese Leute, die eine besondere Ausdrucksstärke besitzen und daher gerade besonders gehört werden sollten!

Kannst du noch von anderen Erlebnissen, die dich berührt haben und dir die Wichtigkeit von ATD Vierte Welt zeigen, erzählen?

Nora: Also was für mich sehr prägend war, war die Arbeit in der Straßenbibliothek in Molenbeek, die ich leider nur von September bis Ende Oktober 2014 miterleben konnte. Die verschiedenen Kinder und ihre Familien kennenzulernen und zu sehen, wie sie in so einem armen Umfeld leben, war sehr interessant. Es war sehr schön, mit den Kindern Spiele zu spielen, sich kennen zu lernen und vor allem zu lesen. Die Förderung der Lust am Lesen und der Neugier am Wissen sind nämlich die zentralen Ziele der Straßenbibliothek.

Wie erlebst du die Armut der Personen, die du triffst?

Nora: Ich finde es ganz schwierig, mich in diese Lage hineinzuversetzen. Wenn ich von meiner Perspektive ausgehe, merke ich immer wieder wie gut es mir immer ging und wie gut es auch den meisten oder vielen anderen Leuten in meinem Umfeld geht. Aus einem sicheren Elternhaus zu kommen, sich nie über existenzielle Dinge Gedanken machen zu müssen, immer zur Schule gehen zu können,…Selbst nimmt man meist diese ja doch vermehrt finanziellen Gedanken gar nicht wahr. Zwar war mir schon immer bewusst, dass ich mich glücklich schätzen kann, aber durch ATD wurde mir das noch einmal mehr bewusst.
Die Leute, die mit ATD Vierte Welt in Verbindungen stehen, sind oft herzliche und offene Leute, aber es gibt auch viele, die von ihrem Schicksal gebrochen und introvertiert sind. Es ist für mich oft komisch, wie die Leute auf mich reagieren. Viele siezen mich oder fragen mich viel über mein Leben aus, was mich natürlich freut, und das gibt mir wieder einen anderen Blick auf meine Situation. Das ist einfach ein einmaliges Erlebnis für mich. Besonders berührt hat mich auch, zu sehen, wie humorvoll viele Menschen sind, beziehungsweise wie sie gelernt haben, mit ihrem Schicksal umzugehen und kreativ zu denken. Ich finde es toll, dass ich durch diese vielen Begegnungen eine andere Perspektive auf manche Dinge entwickelt habe.

Was bedeutet ATD Vierte Welt mittlerweile für dich?

Nora: Für mich ist diese Möglichkeit, hier zu arbeiten, eine einmalige Erfahrung. Ich fühle mich auch in der Organisation total wohl und finde es sehr interessant zu sehen, mit welchen Motivationen viele direkte Volontäre von ATD Vierte Welt hier herkommen und was sie vorher gemacht haben. Auch das System des Austausches Freiwilliger zwischen den verschiedenen Ländern finde ich sehr interessant. Insgesamt kann ich sagen, dass ich diese Erfahrung nicht mehr missen will.

 

 

Hast du einen Aspekt von ATD Vierte Welt, den du während deines restlichen Dienstes noch weiter kennenlernen willst?

Nora: Also ich würde gerne auf jeden Fall noch einen größeren Einblick in die Funktionen der Volksuniversitäten bekommen. Ich war leider erst bei einer Volksuniversität dabei und habe an dem Tag in der Kinderbetreuung geholfen. Das hat sehr viel Spaß gebracht, aber leider hatte ich noch keine Möglichkeit, zu sehen, wie die Arbeit in den Gruppen der Erwachsenen abläuft und wie das Erarbeite dann weitergeleitet wird z.B. zur Europäischen Kommission. Das würde mich sehr interessieren.

Noras Resümee ihrer Arbeit in Brüssel:
 Ich bin wirklich sehr froh, bei ATD Vierte Welt «gelandet» zu sein, weil ich auch eine sehr hohe Eigenverantwortung bzw. Unabhängigkeit habe. Mir wird ein großes Vertrauen geschenkt, dass ich mich mit meine Projekte identifiziere und sie gut umsetzen werde.
 Was ich auch sehr gut finde, ist, dass ich Berichte über meine Arbeit schreiben muss. Dadurch kann ich das erlebte noch einmal reflektieren und merke, was ich noch entdecken möchte.