Handwerker der Demokratie
Foto: «Lernen vom Erfolg», Seminar in Pierrelaye – Frankreich, Juli 2008 ©Vladimiro Pino / ATD Quart Monde / Centre Joseph Wresinski
Jona Rosenfeld ist ein weltweit anerkannter Lehrer Sozialer Arbeit. Er hat als Lernbegleiter an mehreren internationalen Seminaren der Bewegung ATD Vierte Welt mitgewirkt. Im folgenden Buchausschnitt berichtet er von einer Forschungsarbeit zur Überwindung von Exklusion in gesellschaftlichen Institutionen.
«Vor ungefähr zwanzig Jahren bot sich mir die günstige Gelegenheit, mit Bruno Tardieu, einem der langjährigen Mitglieder des ATD-Freiwilligenkorps, die gemeinsame Arbeit an einem Buch aufzunehmen, das den Titel trägt: „Handwerker der Demokratie – Wie gewöhnliche Menschen, Familien in äußerster Armut, und soziale Institutionen Verbündete bei der Überwindung sozialer Exklusion werden“. Statt das übliche Verfahren des direkten Umgangs mit in äußerster Armut lebenden Familien darzustellen, beschrieben wir, wie Mitglieder der ATD Vierte-Welt-Bewegung Personen und Organisationen dafür gewinnen, für das Wohl der in äußerster Armut lebenden Familien mit einer Strategie tätig zu werden, die meines Wissens noch niemals vorher dokumentiert worden ist. Unsere Arbeit an dem Buch wurde von meinem Freund und Kollegen Donald Schön inspiriert und begleitet. Zur Vorbereitung interviewten wir Vertreter von zwölf Organisationen, die das Leben der Familien in Armut verändert hatten, darunter die „Electricite de France“ (EDF), den „Conseil économique et social de France“, einen Journalisten der „Basler Zeitung“ und einen Sprecher der Vereinten Nationen. Die fälligen Treffen dienten der gemeinsamen Unterrichtung darüber, welches umsetzbare Wissen die Mitglieder der ATD Vierte-Welt-Bewegung und andere instand gesetzt hatte, Organisationen zu rekrutieren und sie für Maßnahmen zum Wohle in äußerster Armut lebender Familien zu gewinnen. Unter den vielen, von uns so genannten Handlungsprinzipien, die sich aus diesen Gesprächen ergaben, identifizierten wir einen Faktor, der zur Steigerung des Engagements aller zwölf Interviewten beigetragen hatte. Dies war, unerwarteter Weise, das Feingefühl, das in Armut lebende Personen erkennen lassen. Indem sie dies als ein verbindendes Element im Leben der armen Familien wahrnahmen, fühlten sich die Mitglieder der Organisationen tief berührt, größten Teils weil das etwas war, was sie, wie sie sagten, schmerzlich in ihrem eigenen Lebens- und Arbeitsalltag vermissten.
- Ein Beispiel dieses Feingefühls zeigte sich etwa, als Kindern von Familien in äußerster Armut der Wunsch erfüllt wurde, den Kontrollraum der „Electricité de France“ (EDF) zu besuchen. Während des Besuchs waren die Kinder neugierig, nett zueinander und sehr dankbar für die ihnen gewährte Gelegenheit. Ihr Verhalten rief bei den Verantwortlichen der Gesellschaft eine Dissonanz hervor, da diese ein solches Verhalten nicht erwartet hatten. Und diese Dissonanz wiederum machte ihnen die Menschlichkeit der Kinder so augenfällig. Tatsächlich waren die Angestellten vom Verhalten der Kinder so sehr bewegt, dass die Organisation ihre Politik, während der Wintermonate solchen Familien den Strom abzustellen, wenn sie nicht zahlten, beendete. Die formelle Rechtfertigung dieser Änderung kam zustande, als den Verantwortlichen bei EDF etwas auffiel, was mit den Zweitwohnungen wohlhabender Familien vor sich ging, die im Winter unbewohnt waren, wenn die Elektrizitätskosten am höchsten sind. Es erwies sich nämlich, dass die Zahlungen der wohlhabenden Familien nicht die Kosten für den ihnen gelieferten Strom deckten, so dass sie bezuschusst werden mussten. Diese Erkenntnis wurde dann als Rechtfertigung dafür verwendet, den ganzjährigen Verbrauch der in Armut lebenden Menschen zu bezuschussen.
Diese Geschichte ist ein Beispiel dafür, wie die Art engagierten, kreativen und kraftvollen Handwerks der ATD Vierte-Welt-Bewegung zum Wohle der am meisten Ausgeschlossenen in den demokratischen Gesellschaften der Welt beiträgt. Die Arbeit zwölf solcher Einrichtungen der ATD Vierte-Welt-Bewegung wurde in «Artisans of Democracy» https://www.atd-quartmonde.fr/produit/artisans-of-democracy/ dargestellt. … Wie einmalig auch immer dieser Fall sein mag, in der Hauptsache zeigt dies Buch, wie gesellschaftliche Ressourcen für eine breite Vielfalt von «unbeachteten Armen» in verschiedenen Gesellschaften zu beschaffen sind. Darüber hinaus können Aktionen wie die in «Artisans of Democracy» dargestellten dazu beitragen, die Werte der Demokratie bei denen zu stärken und zu verankern, die normaler Weise nichts von ihnen haben.» (J. Rosenfeld, Jenseits der Exklusion, S. 148-150)
Jenseits der Exklusion Lernen vom Erfolg – Auf dem Weg zur Gegenseitigkeit Jona Michael Rosenfeld im Dialog mit Jean-Michel Defromont Verlag Barbara Budrich 2020, 196 Seiten
ISBN 978-3-8474-2406-2